Meldung
15.05.2019

medways: Interview zu Regularien in der Medizintechnik

Die Medizintechnik ist eine der innovativsten Branchen Thüringens. Doch ob Medizintechnik-Produkte am Markt zugelassen werden, unterliegt strengen Reglementierungen, die mit neuen EU-Bestimmungen nochmals verschärft wurden. 2020 läuft die Übergangsregelung aus, ohne dass bisher die notwendigen wirtschaftsfreundlichen Rahmenbedingungen geschaffen wurden. Dr. Eike Dazert, Geschäftsführerin des Branchennetzwerks medways e. V., erläutert im Interview, was auf die Unternehmen zukommt.

Die Medizinprodukterichtlinien MDD, AIMD, IVDR wurden 2017 ersetzt durch die EU-Verordnungen MDR (für Medizinprodukte) und IVDR (für In-Vitro-Diagnostika), deren Übergangsfristen am 25.05.2020 (MDR) bzw. 25.05.2022 (IVDR) enden. Ab diesem Zeitpunkt dürfen neue Medizinprodukte in Europa nur noch auf Basis dieser Verordnungen auf den Markt gebracht werden. Die Branche ist verunsichert, da eine Reihe von Veränderungen mit neuen bürokratischen Hürden zu nehmen sind. Dr. Eike Dazert, Geschäftsführerin des Branchennetzwerks medways e. V., erläutert im Interview, was auf die Unternehmen zukommt.

Was konkret ändert sich?
Viele Medizinprodukte werden in höhere Risikoklassen eingeordnet. Einige Risikoklassen wurden auch neu eingeführt, z. B. für Software oder für wiederverwendbare chirurgische Instrumente. Damit benötigen die entsprechenden Unternehmen erstmalig eine „Benannte Stelle“ für ihre Produktzulassungen und weiterhin ein zertifiziertes Qualitätsmanagementsystem (DIN EN ISO 13485/2016). Künftig müssen sich alle „Benannten Stellen” in einem aufwändigen und langwierigen Prozess neu zertifizieren lassen. Derzeit hat erst eine „Benannte Stelle” die-sen Prozess erfolgreich abgeschlossen. Zusätzlich verlangen die neuen Regularien eine Betrachtung des gesamten Produktlebenszyklus von der Entwicklung bis zum Recycling. Die Hersteller müssen im Rahmen der klinischen Bewertung und des „Post Market Surveillance” mehr klinische Daten erheben. Aus diesen Veränderungen ergeben sich für die betroffenen Hersteller große Herausforderungen.

Wo sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für bestehende Unternehmen?
Der Dokumentationsaufwand steigt deutlich. Die in vielen Bereichen notwendige Erhebung von klinischen Daten für die Zulassung und im Rahmen der klinischen Überwachung nach Marktzulassung belasten besonders die Ressourcen der KMU erheblich. Schon jetzt prüfen Unternehmen genau die Zertifikate für einige Nischenprodukte. Aus Rentabilitätsgründen werden einige wahrscheinlich nicht mehr verlängert. Damit besteht die Gefahr, dass innovative Produkte, die maßgeblich zu einer guten medizinischen Versorgung der Bevölkerung beitragen, vom europäischen Markt genommen werden. Weiterhin wird die Innovationskraft besonders kleiner und mittlerer Betriebe gebremst, da der Aufwand zur Neuzulassung von Produktinnovationen für diese Unternehmensgruppe die vorhandenen Ressourcen übersteigt. Mit dieser Entwicklung besteht die Möglichkeit, dass es zu Konsolidierungsprozessen in der Branche kommt, was mit einer sinkenden Innovationskraft insgesamt einhergehen kann.

Brexit und Medizinprodukte – was hat das miteinander zu tun?
Von den 59 „Benannten Stellen” im Jahr 2017 haben derzeit nur 25 die Unterlagen für eine Neuzertifizierung eingereicht. Von diesen hat nur eine diesen Prozess erfolgreich durchlaufen (BSI in Großbritannien) und darf Zertifikate nach neuer MDR ausstellen. Mit der Zertifizierung weiterer „Benannter Stellen“ wird bis zum Ende des 2. Quartals gerechnet. Absehbar ist aber, dass die Anzahl der neuakkreditierten Stellen für die Fülle der Aufgaben viel zu niedrig sein wird und der Zeitpunkt, an dem die Arbeitsfähigkeit hergestellt ist, für die Unternehmen viel zu spät kommt. Zusätzlich verlieren mit dem Brexit die „Benannten Stellen“ in Großbritannien ihre Zertifikate und alle Produkte mit diesen Zertifikaten müssen neue erhalten. Damit müssen alle Unternehmen, die heute ihre Produkte in Großbritannien zertifiziert haben, sich neue „Benannte Stellen“ in Zentraleuropa suchen, die es aber noch nicht gibt, um dort ihre Zertifikate zu erneuern. Hinzu kommt, dass 70 Prozent aller Produkte, die von Ländern außerhalb der EU auf den europäischen Markt wollen, über eine „Benannte Stelle“ auf der britischen Insel zugelassen werden. Diese Hersteller und Produkte müssen jetzt auf eine „Benannte Stelle“ in Zentraleuropa ausweichen, was den eklatanten Kapazitätsengpass bei den „Benannten Stellen” nochmals erhöhen wird.

Ist die medizinische Versorgung durch die neuen Regelungen in Gefahr?
Die zentrale Forderung der neuen EU-Verordnungen ist die Gewährleistung der Patientensicherheit. Dieser Punkt wird von allen verantwortungsbewussten Playern der Branche vorbehaltlos unterstützt. Aus meiner Sicht müssen bei der Umsetzung der Verordnungen jetzt alle vorhandenen Spielräume genutzt werden, um praxistaugliche Rahmenbedingungen festzulegen. Sie müssen sicherstellen, dass die Innovationskraft einer ganzen Branche nicht zum Erliegen kommt bzw. die KMU als Innovationstreiber nicht durch Konsolidierungsprozesse vom Markt verschwinden.

Wie schätzen Sie die derzeitige Situation ein?
Die festgelegten Übergangsfristen von drei Jahren für die MDR waren dafür gedacht, dass die Unternehmen ihre Prozesse und Produktzulassungen auf die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen anpassen. In der Praxis ist diese Zeit jedoch zu einer Übergangsfrist für die Gremien der EU geworden, die in dieser Zeit erst die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit die Unternehmen mit der Arbeit beginnen können (Neubenennung der „Benannten Stellen”). Die „Benannten Stellen“ sind aber noch nicht neu zertifiziert. Die Hersteller erhalten vielfach keine Auskunft, wie weit der Prozess vorangeschritten ist, mit welchem Scope nach neuer MDR die „Benannte Stelle“ tätig sein wird. Anfragen zur Zertifizierung neuer Produkte werden nicht bearbeitet. „Benannte Stellen“ nehmen keine neuen Kunden auf, wenn diese von ihrer früheren „Benannten Stelle” wechseln müssen. Inhaltliche Anfragen zur Auslegung der MDR in relevanten Punkten werden nicht beantwortet. Kurz: die Unternehmen sollen mit der Arbeit beginnen, aber es wird ihnen alles andere als leichtgemacht.

Was muss auf politischer Ebene passieren, damit auch in Zukunft die Innovationskraft der Medizintechnikbranche wie auch das Patientenwohl gesichert sind?
Hier ist die Politik dringend gefordert. Die Übergangsfrist sollte beginnen, wenn die Rahmenbedingungen geschaffen sind („Benannte Stellen”, EU-Texte). Aus meiner Sicht werden dringend Anreize benötigt, um die Etablierung neuer „Benannter Stellen” zu fördern, da dieser Anreiz aus den privatwirtschaftlich agierenden „Benannten Stellen” selbst nicht besteht. Weiterhin sind Förderprogramme denkbar, die den Unternehmen die Gewinnung klinischer Daten erleichtern, die Digitalisierungsprozesse in den Unternehmen unterstützen. Weiterhin sind pragmatische Lösungen für Bestandsprodukte besonders mit niedrigen Risikoklassen wünschenswert.

Das Thüringer Forschungs- und Technologieforum 2019 greift das Thema auf. Was erwartet die Teilnehmer am 22. Mai in Jena?
Das Programm wurde so gestaltet, dass neben spannenden Vorträgen zu rechtlichen Rahmenbedingungen, Technologietrends und Best-Practice-Beispielen viel Platz für den interdisziplinären Austausch bleibt. Ohne Netzwerke geht heute aus meiner Sicht nichts mehr – etwas anderes dürfte ich als Netzwerkmanagerin wahrscheinlich auch gar nicht sagen. Aber Spaß beiseite, ich denke, gerade die KMU profitieren sehr von ihren Netzwerken und Beziehungen innerhalb der Branche, aber auch vom branchenübergreifenden Erfahrungsaustausch und von Kooperationen entlang der Wertschöpfungskette. Für diesen Austausch soll die Konferenz eine Plattform bieten.

„Bei der Umsetzung der EU-Verordnungen müssen alle vorhandenen Spielräume genutzt werden, um praxistaugliche Rahmenbedingungen festzulegen. Diese müssen sicherstellen, dass die Innovationskraft einer ganzen Branche nicht zum Erliegen kommt und die KMU als Innovationstreiber nicht durch Konsolidierungsprozesse vom Markt verschwinden. Die Politik ist dringend gefordert. Die Übergangsfrist sollte erst beginnen, wenn die Rahmenbedingungen geschaffen sind.” Dr. Eike Dazert, Geschäftsführerin des medways e. V.

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